Résumé der letzten zwei Tage
(Tag 10&11: Samstag, Sonntag – 16/17. Mai)

Vor zwei Tagen habe ich meine Eltern in Kehl getroffen. Mit dem Auto sind wir auf die französische Seite des Rheins, nach Straßburg, gefahren. Nach unendlicher Parkplatzsuche flanieren wir durch die sehr belebte Innenstadt. Während der ganzen Zeit habe ich den SOUNDMAN-Recorder im Ohr und nehme das vorwiegend französische „ge-walla-re“ auf („walla“ ist in Soundarchiven dieses undefinierbare Stimmenwirrwarr, das man sehr gut an öffentlichen Plätzen aufnehmen kann, bei denen man maximal Sprachfetzten mitbekommt) und denke dabei an die französische Episode unseres Films auf Nicos Weg. Ich laufe also als großes, alles aufzeichnendes Gehör durch Straßburg und suche die Nähe von Grüppchen, bevorzugt französischer Sprache. Wir setzen uns in ein Cafe „Le Jardin“ und schon wieder kommen meine Eltern in einem Projekt von mir vor. Wobei es diesmal kein Film über sie selbst ist und auch kein Film über deren Garten, denn leider haben sie keinen; jedenfalls nicht in Deutschland, wo sie wohnen, sondern nur auf Sardinien, wo sie herkommen. Apropos Auswandern, mir fällt ein: Heute wurde ich von einem Passanten gefragt, warum mein Rucksack so groß sei? Er: der festen Überzeugung, ich hätte meine Frau mit im Gepäck. Was er wohl glaubte, wo ich her sei? Ich stelle mir also vor, damals 1978 als meine Eltern nach Deutschland emigrierten, wie mein Vater meine Mutter auf die Schultern genommen hätte, um nach Deutschland auszuwandern. Ich vermute jedoch, dass sie sich auf halber Strecke abgewechselt hätten.
Auf der Rückfahrt nach Deutschland überqueren wir wieder den Rhein, doch bevor man die deutsche Seite erreicht, muss man durch eine industrielle Pufferzone, eine große Insel, ganz der Logistik, dem Schwertransport und der Industrie gewidmet. Ist es nicht bezeichnend, wenn der Weg zum Campingplatz zusammen mit der Beschilderung für die Gewerbezone ausgeschildert ist? Auf dem Weg aus Kehl finde ich den Warenumschlagplatz eines internationalen Logistikgroßunternehmens. Dort stehen reihenweise Campingwagen – Parallelen zeigen sich auf. Zum Abschied gibt meine Mutter mir einen Wetzstein für mein Messer mit auf den Weg! War das nicht auch der letzte Tausch, den Hans aus dem Märchen Hans im Glück durchführte, um sein Glück zu finden. Aber erst dessen Verlust brachte ihm letztlich Erlösung: „»So glücklich wie ich«, rief er aus, »gibt es keinen Menschen unter der Sonne« Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort.“

Am Rhein angeln
Am Rhein entlang mache ich mich auf den Weg weiter in Richtung Norden. Mir wird plötzlich klar, dass meine Routenplanung sich seit Freiburg verändert hat. Ich habe einen Moment der Verwirrung und frage mich, ob es nicht glücklicher wäre, ein Stück durch Frankreich zu laufen – in Richtung Saarbrücken. Leider fehlt mir der Kartenabschnitt dieses Gebiets, und Freunde erreiche ich sonntags auch keine, die mir Auskunft über das Gelände geben könnten. Ich laufe also weiter den Rhein entlang und warte auf Rückrufe. Ich gebe mir Zeit bis zum nächsten Übergang nach Frankreich, um meine Route evtl. abzuändern. Die Verwirrung legt sich kaum und die Füße laufen um so getriebener. Auf dem Weg vertreibe ich mir die wenig abwechslungsreiche Landschaft mit der Vorstellung, ein Spiel mit dem Rhein zu spielen: Mit dem linken Bein springe ich auf die französische Seite und mit dem rechten auf die deutsche; hin und her, links und rechts, hopp und hopp… Mit tiefer Stimme zieht das erste Frachtschiff an mir vorbei, es dauert eine Weile, bis der tiefe Bass in der weiten Landschaft nach dessen Vorbeischweifen abklingt. Ich stoße während meines Spiels auf einen Fischer, der in aller Seelenruhe am Ufer im hohen Gras sitzt und einfach nur wartet. Da wird mir alles klar: “Ich muss weiter so nah wie möglich am Rhein entlang gehen“, die Frage der Abkürzung über Frankreich erübrigt sich! Dafür muss ich jedoch eine andere Haltung einnehmen: Es wird Zeit, die Angel auszupacken und das Soundequipment umzudisponieren. Der Eilschritt wird zum Stillstand – ZEN und die hohe Kunst des Töne Angelns. Sagte nicht Konfuzius:„Gib einem Mann einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du ernährst ihn für sein Leben.“

Der Rhein ist wahrlich kein stilles Gewässer, doch laut wird es nur in sehr langen Intervallen. Ich nehme mir also vor, jedes Schiff, das am heutigen Tag an mir vorbeizieht, aufzunehmen und sie alle dann in einem Chor – einer Ode an die Schifffahrt – in der Montage übereinanderzulegen. Die 30 km Tagesmarsch sind nun nicht mehr zu schaffen, dafür jedoch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Klang dieser besonders weitläufigen Landschaft.
Zur bisherigen Methode:
Hier ein Auszug aus dem Tonkonzept vor dem Antritt der Reise:
„Ich komme an einen Ort, den ich nicht kenne. Naturgemäß sehe ich den Raum um mich herum und analysiere ihn: Ich fühle mich sicher, wenn ich Dinge erkenne und erfreue mich an den Besonderheiten des Ortes und des Raumes, die ich nicht kenne oder zum ersten Mal sehe. Ich höre und kann, muss aber nicht, zuweisen, woher die Töne kommen. Entweder kann ich es nicht, weil sie verschwindend kleinen Geräuschquellen entspringen oder weil mir der Blick auf die Geräuschquelle versperrt ist. Im Film bin ich es gewohnt (muss aber nicht), das zu hören, was ich sehe (über den Off-Ton brauchen wir an dieser Stelle nicht ausführlich sprechen).
Ich als Augenmensch, so wie vielleicht wir alle Augenmenschen sind, wenn wir nicht durch besondere Umstände Ohrenmenschen werden müssen oder als solche geboren werden, nämlich als Blinde, sehe einen Raum, bevor ich ihn höre bzw. akustisch analysiert habe. Unterschwellig geschehen diese Wahrnehmungsprozesse (sehen, hören, riechen etc.) jedoch parallel und die vielen Eindrücke bedingen die Atmosphäre eines Ortes und das subjektive Gefühl, das man dabei verspürt. Das ist es schließlich, was einen Ort besonders macht und mich dazu führt, diesen Ort näher zu betrachten oder aktiv zu dokumentieren, evtl. mit Bild oder Ton. In meinem Fall ist es der Ton. Doch, ich kann nicht anders, als Augenmensch sein. Also wird mein Vorgehen, abgeleitet vom Sehen, so sein, dass ich das Ohr bzw. die Aufnahme – ganz dumm – dem Auge folgen lasse.
Ich komme also an einen Ort, sehe mich um und beschließe, erst eine Atmosphäre einzufangen, so unverfälscht wie möglich. Das mache ich am besten mit meinem Stereomikrofon, das ich in der Hand halten kann, oder aber mit meinen Ohrstöpselmikros (SOUNDMAN), die mir erlauben, auch im Laufen unbemerkt mein akustisches Umfeld aufzunehmen. Wenn etwas, ein Mensch oder ein Ding, besonders hervortritt, werde ich dessen Ton direkt abnehmen. Im Falle eines Menschen wird es ein Gespräch sein, das ich mit dem Handmikrofon aufnehmen werde. Wenn es sich um etwas statisches oder einen Gegenstand handelt, werde ich dessen Ton mit den Kontaktmikrofonen abnehmen. Das ist, wie vom Weitwinkel zum Tele-Zoom zu wechseln, wenn man selber statisch bleibt, oder aber wie eine Fliege den Raum abscannt und sich im Raum selbst bewegt; wie mit einer Festbrennweite, die mal näher mal weiter weg von seinem Subjekt den Raum und die Einzelheiten einfangen muss.“

Abweichen von der Methode
Ausgehend von der neuen Erkenntnis über den Umgang mit der Tonangel („Angeln am Rhein“) beschreibe ich kurz meinen sonstigen Umgang mit dem Equipment.
Mir ist aufgefallen, dass ich auf dem Land und wenn ich durch mir unbekannte Orte laufe (erkennbar als Wanderer mit Rucksack und Wanderhut), die Leute sehr zugänglich sind. Wenn ich einen Laden betrete, wie z. B. den Bäcker oder den Metzger des Ortes, dann trage ich ein Handaufnahmegerät in meiner Brusttasche oder meinen SOUNDMAN im Ohr. Ich beginne die Tonaufnahme vor dem Gespräch und gehe dann auf die Leute zu. Meistens bestelle ich etwas, um ins Gespräch zu kommen und frage dann, immer persönlicher werdend, weiter. Auf der Straße oder am Gartenzaun frage ich beispielsweise nach dem Weg zur nächsten Ortschaft. Traditionsbäckereien sind am Aussterben, deshalb ist es immer interessant zu fragen, wie es dazu kommt, dass sich die jeweilige Bäckerei in einem kleinen Ort so gut hält, das selbe gilt für Metzger und andere Familien- und Traditionsbetriebe. Meistens übernehmen die Kinder den Betrieb nämlich nicht und das Geschäft geht, aufgrund der großen Konkurrenz der Supermärkte, unter. Über solche Fragen kommen interessantere Gespräche zustande als nur über das Verkaufsgespräch. Auf dem Land finde ich vor allem die Sprache interessant. Wenn man dieses Konzept von Zürich bis Düsseldorf durchzieht, kann man sich vorstellen, welche Vielfalt an lokalen Sprachvariationen man dabei mitbekommt. Wenn ich jedoch in Städten bin, dann reduziert sich meine Interesse mehr auf Geräusche und gemischte Tonquellen, wie größere Menschenmengen. Denn die Menschen, die man in einer Stadt trifft, müssen nicht unbedingt von dort stammen, d.h. Städte sind anonym und, ausgehend von der Reinheit des Sprachgebrauchs, kein Garant für ein interessantes Gesamtergebnis. Man kann alles und jeden treffen, was auch interessant ist, aber nun mal eher dem Zufall überlassen und somit beliebig. Deshalb kann die Stadt in der Tonaufnahme sich meinetwegen auch konstant überlagern und übertönen, denn das entspricht dem urbanen Zusammenleben eher.

Zurück zum Rhein
Als ich meine ersten großen Frachterschiffe aufnehme, fällt mir auf, dass es ungefähr fünf Minuten dauert, bis der Frachter akustisch an mir vorbeizieht. Von dem Moment an, an dem ich ihn mit bloßem Ohr höre, bis zu dem Moment, an dem ich den hinteren Teil, der wegen der Motoren lauter ist, nicht mehr höre. Am Ende stoßen die Wellen, die er hinterlässt, an die Brandung, was für einen Fluss sonst ungewöhnlich ist.
Die Ausdauer und Geduld, die diese Arbeit abverlangt, faszinierte mich am gestrigen Tag derart, dass ich beschloss, die Nacht am Flussufer zu verbringen. Ich war mir klar über das Risiko, am Ufer des Rheins zu übernachten, doch meine Faszination für den tiefen Ton der Frachtschiffe und dieses un-stille Gewässer waren größer als meine Angst. Ich schloss mich also bis auf einen winzigen Spalt, durch den ich meine Angel aus dem Zelt halten konnte, im Zelt ein und horchte gespannt in die Nacht und nach den einzufangenden Schiffchen.
